Ein Aussteiger aus der rechten Szene spricht

Dieser Artikel von Julia Helwig ist zuerst am 28.09.20 auf Rheinpfalz.de erschienen.

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Christoph Sorge ist mutig. Der Dresdner will wachrütteln. Der ehemalige Neonazi sprach am Montag vor 100 Schülern der IGS Eisenberg offen über seine Zeit in der rechten Szene – und von seinem Ausstieg. Es war ein Vortrag, der unter die Haut ging.

Es ist totenstill, als Christoph Sorge sich den Schülern der 10. Jahrgangsstufe vorstellt. Zwölf Jahre lang war er in der Neonazi-Szene aktiv, vor rund sechs Jahren stieg der gebürtige Sachse aus. „Bereits als Kind, im Alter von neun Jahren, kam ich mit der rechtsradikalen Szene in Kontakt. Über den Bruder eines Freundes“, erzählt der 33-Jährige. Irgendwann habe er sich dann mit der Ideologie identifizieren können, es sei ein schleichender Prozess gewesen, berichtet der junge Mann, der heute selbstständig ist und in der Autobranche arbeitet.

Ein Schüler möchte wissen, ob Sorges Eltern nichts von der rechtsradikalen Einstellung ihres Sohnes mitbekommen haben oder ob sie vielleicht ebenfalls eine rechte Gesinnung hatten. Sorge verneint: „Man führt ein Parallelleben. Den Eltern habe ich erzählt, dass ich zum Wandern gehe, stattdessen bin ich nach Prag zu einer Demo mit Kameraden gefahren.“ Je mehr er in die Szene eingebunden war, desto mehr habe sich sein Leben verändert, so Sorge. Der Kontakt zur Familie sei abgerissen, psychischer und zeitlicher Druck sei entstanden. Seine Aufgabe sei die Rekrutierung junger Menschen gewesen. „In Schulen habe ich sie angesprochen.“

„Es ging darum, ein Netzwerk aufzubauen“

Wie gewaltbereit der Dresdener war, wollte ein Mädchen wissen. Sorge: „Mit 14 Jahren kam es erstmals zu einer Schlägerei. Ich war aber nie im Gefängnis.“ Gewalt gegen Ausländer, Anschläge oder Zerstörung von Gegenständen seien nicht zentral für ihn gewesen. „Es ging vielmehr darum, ein Netzwerk aufzubauen, die BRD und die Demokratie nicht anzuerkennen und abzuschaffen“, sagt Sorge. „Es ging um Zahlen und Fakten, um die Frage, wie man das verwirklichen kann und nicht darum, einen Anschlag auf einen ausländischen Imbiss auszuüben. Das hätte dem Netzwerk im Großen nichts gebracht.“

Emotional sei er in dieser Zeit abgestumpft. Beim Vortrag fällt auch auf, wie rational er über das Erlebte berichtet. Im Nachgespräch mit der RHEINPFALZ verrät er: „Natürlich habe ich Schuldbewusstsein und das Thema beschäftigt mich. Allerdings sehe ich es als meine Aufgabe, präventiv zu arbeiten und aufzuklären.“ Sein Ziel sei es, Menschen, Vereine und Organisationen zu befähigen, rechte Strukturen zu erkennen und zu verstehen. Zudem den Einfluss rechter Strukturen in der heutigen Gesellschaft mit demokratischen und friedlichen Mitteln zu bekämpfen.

Die rechte Szene ist nicht homogen

Sorge macht den Schülern klar, dass es nicht eine rechte Gruppe gibt, sondern viele unterschiedliche Bewegungen existieren. „Allein in Sachsen gibt es 28 Gruppierungen“, sagt er. Deshalb sei es schwierig, zu pauschalisieren. Auf die Frage, ob er nach dem Ausstieg Angst vor ehemaligen Kameraden hat, sagt Sorge: „Ich habe mich bewusst für den Ausstieg entschieden und wusste, was auf mich zukommt. Dazu kenne ich die Szene schon lange. Ich habe Glück gehabt, das kann ich sagen, kenne aber auch andere Geschichten.“ Zu ehemaligen Mitstreitern habe er keinen Kontakt mehr.

Weshalb es zu seinem plötzlichen Sinneswandel kam? Der psychische Druck sei einfach irgendwann zu groß geworden. Bei vielen Aussteigern aus der Szene seien oft soziale Gründe der ausschlaggebende Punkt. Die Ideologie sei ja nicht einfach aus dem Gehirn verschwunden, gibt Sorge offen zu. Geduldig müssen man daran arbeiten. Der heute Selbstständige arbeitete zuvor acht Jahre im Pflegebereich. Als Sorge davon berichtet, kann man die Verwunderung in einigen Gesichtern der Schüler erkennen. „Ja, das ist wahr. Ein Nazi, der sich sozial engagiert hat“, sagt Sorge. Ob die Arbeitgeber von seiner rechtsradikalen Gedanken nichts wussten oder nur die Augen verschlossen haben, weiß der junge Mann nicht. Als er jedoch irgendwann darauf angesprochen worden sei, und sich öffentlich politisch rechts positionierte, habe man ihn entlassen.

In dieser Phase habe er bereits mit dem Gedanken gespielt, auszusteigen. Ganze zehn Monate dauerte dieser Prozess. „Zunächst wusste ich ja gar nicht, wie ich das machen soll“, erzählt Sorge. Mit Hilfe des Aussteigerprogramms „Ad-Acta“ von Michael Ankele habe er es in Angriff genommen. Auch die Arbeit im Verein Projekt 21 II, der präventiv gegen Rechtsextremismus unter anderem in Schulen unterwegs ist, sei Teil seines neuen Lebens. Rund 350 Veranstaltungen hat Sorge bereits beigewohnt.

Die Rechten nutzen die Digitalisierung

Die rechtsradikale Szene habe sich enorm gewandelt. Im Vergleich zu früher, also seiner aktiven Zeit, nehme die rechte Ideologie einen gewissen Raum in der Gesellschaft ein. Medien und Politik seien daran nicht unbeteiligt. Digitalisierung und Globalisierung spielten dabei eine große Rolle, die Vernetzung fällt den Rechten durch sie leichter.

Nach 90 Minuten ist Sorges Vortrag beendet. Die 16-Jährige Celine hat an diesem Vormittag viel erfahren und sagt: „Natürlich kennt man manches, aber direkt von einem Aussteiger eine so persönliche Geschichte zu hören, das ist schon sehr interessant.“ Die Bekämpfung von Rassismus sei ein wichtiges Thema, findet Bastian (15). Viel Neues habe er erfahren, beispielsweise, was rechte Gruppierungen antreibt. „Mir war das vorher nicht klar. Nun weiß ich, dass sie die Demokratie nicht akzeptieren“, so der Schüler.

Organisiert und finanziert wurde die Veranstaltung von der Ortsgruppe Amnesty International Donnersbergkreis sowie der Kirchheimbolander Gruppe Aktiv gegen Rechts. Die Schule hat seit geraumer Zeit das Projekt „Schule gegen Rassismus – Schule mit Courage“, in das Sorges Vortrag eingebunden worden ist. Martin Dexheimer, Stufenleiter der 9. und 10. Jahrgangsstufe, sagt: „Wir versuchen, dass erst gar keine Fremdenfeindlichkeit aufkommt und kein rechtes Gedankengut entsteht. Deshalb arbeiten wir präventiv.“