Hier gehts raus

ein Beitrag von Thomas Trappe erschienen in der Sächsischen Zeitung

Hier geht’s raus!

Michael Ankele hilft jungen Neonazis in der Oberlausitz, aus der rechtsextremen Szene auszusteigen – so wie David, der noch immer mit Rache rechnet.

 

David nutzt nicht ohne Weiteres den automatischen Türöffner, wenn bei ihm geklingelt wird. Nach dem Läuten öffnet er das Fenster, schaut runter, wer da ist, erst dann lässt er den Besucher rein. Der 20-Jährige ist vorsichtig geworden in den vergangenen Jahren, seit er nicht mehr in der Szene mitmacht. Und die Szene lange Zeit auch mal gerne an seiner Tür klingelte, um ihn zurück zu holen.

Diese Geschichte handelt von Neonazis, die keine mehr sein wollen. Dass Davids Nachname und sein genauer Wohnort hier nicht stehen, ist eine notwendige Schutzmaßnahme. David fühlt sich gut vier Jahre nach seinem Ausstieg zwar einigermaßen sicher, weiß aber auch, dass die Neonazi-Szene in der Oberlausitz nicht vergesslich ist. Zu oft wurde er dafür durch die Straßen seiner Heimatstadt gehetzt. Zu oft kamen die Telefonanrufe und die Ankündigungen, dass er als „Verräter“ bald aufgeknöpft wird. Es war eine Zeit, in der sich David vielleicht Zuflucht in einer versteckten Wohnung fernab vom Schuss gewünscht hätte. So eine, die in der Nähe gerade eingerichtet wird und von der hier später noch die Rede sein wird.

David trägt seine dunklen Haare kurz und hat eine Vorliebe für Basecaps und Kapuzenpullis. Bevor er beginnt, in seiner Plattenbauwohnung am Stadtrand seine Geschichte zu erzählen, gibt er dem Gast ein Bier, zündet sich selbst eine Zigarette an. Er ist nicht nervös, dazu hat er schon zu oft von seiner Reise zurück in die Gesellschaft berichtet. Aufgewühlt, das ist er aber trotzdem. Man referiert nicht einfach so nebenbei, wie man ein anderer Mensch werden will.

Als Elfjähriger wurde David von älteren Neonazis auf dem Schulhof rekrutiert, „das übliche Alter“, sagt er. Mit 14 kam er in die Jugendorganisation der NPD, die ihm schnell „zu spießig“ wurde. Er wechselte in eine freie Kameradschaft. Zuerst trafen sie sich damals unter einer Brücke, das war einer der ersten Szenetreffs in der Stadt, später hatten die Jungen dann eine Garage in einem Neubaugebiet für sich. Sechs oder sieben Leute waren sie. Gesoffen wurde fast immer. In der Schule hatte sich David in der Zeit regelmäßig mit einem Zigeuner geprügelt, der einzige Ausländer. David holt ein Bild aus jener Zeit hervor. Es zeigt ihn und zwei Freunde, alle kahl geschoren und mit einer NPD-Flagge in den Händen. David trägt ein Wehrmachtskreuz um den Hals.

Es war nicht unbedingt bessere Einsicht bei David, die ihn mit 16 Jahren dann zum Aussteiger machte. Nein, schlicht enttäuscht war er, dass sich die Szene nicht an Prinzipien hielt, die Kameraden ihn im Stich ließen. Da war der Rädelsführer, der in der Dönerbude seine Zeit verbrachte, da waren die Skins, die ihre Zigaretten in Polen kauften. Und schließlich war da dieser Abend, an dem er alleine gelassen wurde.

Mit zwei Kumpels hatte er wieder mal zu viel getrunken, Musik gehört. Ziemlich aufgedreht waren sie gewesen, die Stimmung aggressiv. In der Innenstadt gingen sie auf ein paar Punks los, die aber auf einmal Verstärkung bekamen. Sie schnappten sich ihn, erzählt David und zeigt auf eine Kerbe im Schneidezahn, die wurde ihm an dem Abend mit einer Bierflasche ausgeschlagen. Nur mit Glück konnte er schließlich doch noch entkommen. Seine beiden Begleiter waren da schon lange weg, hatten nicht mal versucht, ihm zu helfen. David hatte seine Lektion gelernt. Er wurde verraten, was für ihn nur den endgültigen Bruch mit der Szene bedeuten konnte. Er stieg aus.

Betreut wurde er dabei von Michael Ankele (52), bis heute. David kannte Ankele schon aus seiner Zeit in der Szene. Da war er einmal von seinem Rädelsführer beauftragt worden, bei einer Anti-Rechts-Diskussion in einem Veranstaltungshaus im Nachbarort Protokoll zu führen, übliche Praxis bei den Rechten, um Präsenz zu zeigen. Mit Springerstiefeln saß David an dem Abend direkt hinter Michael Ankele, er hielt ihn für einen „linken Spinner“. Heute ist Ankele für ihn das, was man wohl als eine Vaterfigur bezeichnen würde.

Der Sozialarbeiter Ankele erinnert sich an die Szene ebenso gut wie David. Der Junge ist ihm sofort aufgefallen. „Ich fand es ganz schön mutig von ihm, sich alleine in die Höhle des Löwen zu begeben.“ Ankele, sanfte Gesichtszüge, weiche Stimme, Typ Genussmensch, war zu dem Zeitpunkt bereits seit gut fünf Jahren Betreuer von Neonaziaussteigern. Über eine Ausschreibung des Amtsgerichts kam er einst zu dem Job, „eher aus Zufall“, bis er schließlich einer der besten Kenner der rechten Szene in der Region wurde.

Er weiß, wie schnell Jungs wie David in der Oberlausitz in die rechtsextreme Szene abrutschen, er weiß noch besser, wie schwer sie da wieder raus kommen. Deshalb baut Ankele gerade eine Wohnung in einem Oberlausitzer Dorf um, eine Aussteigerwohnung. In ihr sollen Neonazis, die raus aus der Szene wollen und ihres Lebens nicht mehr sicher sind, untergebracht werden. Dort sollen sie in den ersten schweren Monaten von den Kameraden abgeschirmt, vor ihnen geschützt werden.

Kurz bevor er vor der Wohnung einparkt, stoppt Michael Ankele den Wagen nochmal kurz. Er zeigt auf die zwei Meter breite Straße, die sich wie ein Band um den Wohnblock legt. Will man mit seinem Auto auf einen der Bewohner des Hauses warten, erklärt Ankele, muss man damit rechnen, dass zwei Polizeiwagen kommen. Einer stünde dann vorne, einer hinten, ein Entkommen wäre unmöglich. „Das ist hier vollkommen ungeeignet, jemandem aufzulauern“, sagt Ankele. Er grinst. Die Wohnung liegt in einem Nest irgendwo in der Nähe von Tschechien und Polen. In einem Dorf, das sich Ankele mit seinem Verein „Projekt 21/II“ ausgesucht hat, weil er so schön abwegig liegt. 21/II – das steht für Artikel 21, Absatz zwei des Grundgesetzes. Dort ist die Verfassungswidrigkeit von Parteien festgeschrieben, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung kämpfen.

Die Aussteigerwohnung ist noch nicht ganz fertig. Der graue Teppich im Wohnzimmer ist fleckig vom Vormieter, es riecht leicht nach Urin. „Viel gemütlicher soll es hier nicht werden“, sagt Ankele. Zwei Sessel, ein Bett, dann ist gut. Kein Neonazi soll auf die Idee kommen, den Aussteiger zu simulieren, um seine Wohnsituation zu verbessern. Neben der speziellen Straßenlage war es Ankele wichtig, dass die Wohnung im Erdgeschoss liegt. So können die Bewohner im Notfall schneller flüchten. Im Dorf weiß noch keiner, dass hier Aussteiger wohnen sollen, außer dem Bürgermeister. Noch ist niemand eingezogen, „ich kann jetzt aber jederzeit wen aufnehmen“.

Wer hier einziehen wird, weiß Ankele noch nicht. Die Illusion aber, dass es sich um reine Seelen und lupenrein-demokratische Jugendliche handeln wird, vermag er einem schnell zu nehmen. Er sagt, dass es ihm „erst zuletzt um die Umerziehung geht“. Das Problem an der Naziszene ist nach seiner Überzeugung nicht in erster Linie das rechtsextreme Denken, sondern dass dieses Denken Handlungen hervorruft, bei denen Menschen zu Schaden kommen. Er sei zufrieden, wenn er Neonazis aus der Szene holt. Schon trinken sie weniger, schon sind sie aus einem durchweg gewaltbereiten Umfeld befreit. Ob der Aussteiger vielleicht trotzdem noch Vorurteile gegen Ausländer hat, spielt für Ankele eine untergeordnete Rolle – solange der Ausländer in Ruhe gelassen wird. „Ich gehe da ohne Ideologie ran. Solche Kopfgeschichten sind nun mal hartnäckig. Wir können doch nicht den Anspruch haben, die clean zu machen.“

Auch bei David, Ankeles Musterbeispiel, war es ja nicht viel anders. Auch er stieg aus, weil er von den Kameraden enttäuscht war, nicht von seinen eigenen Werten. Und bis heute hat David es nicht geschafft, eine komplette Distanz zur Szene aufzubauen, wie er selbst einräumt. „Man kriegt das nie ganz raus.“ Neulich hat er im Fernsehen wieder mal gesehen, wie in einer U-Bahn-Station irgendwo in Deutschland ein Rentner verprügelt wurde, offenbar von Ausländern. Klar sehe er da zuerst „immer noch die Kanacken, die am besten alle nach Hause sollen“. Ein Reflex, den er erst mal verarbeiten muss.

Ankele kennt das alles, er ist da pragmatisch. „Die Menschen in der Oberlausitz sind Ochsen“, sagt er, ein bisschen liebevoll, ein bisschen resigniert. Sie von einer Meinung abzubringen, sei eigentlich unmöglich. Strukturen, Hierarchien, Führung fasst er zusammen, was seine Klienten wollen. Vor dem Ausstieg, nach dem Ausstieg. Nur halb im Scherz räumt Ankele ein, dass er für seine Klienten ja auch nur „so etwas wie der Führer“ sei. Er hat deshalb die Feuerwehr als Partner für seinen Verein entdeckt. Sie bietet Strukturen, in denen ebenfalls viel Wert auf Kameradschaft gelegt wird. „Wenn wir die Feuerwehr nicht hätten, könnten wir zumachen.“

David, der im Sommer seinen Hauptschulabschluss nachholen will, um dann Koch zu werden, ist auch hier das beste Beispiel. Er redet unentwegt von der Feuerwehr. In seiner Küche hängen ein paar Spruchbänder von der örtlichen Wache, etliche Schutzhelme an der Wand. Eigentlich „ist das hier ein kleines Feuerwehrmuseum“. Ja, es stimmt, er habe in der Feuerwehr „einen Ersatz gefunden“, und ja, ohne sie wäre es ihm wohl kaum gelungen, den Ausstieg aus der Szene durchzuhalten. Und dann dieser Satz: „Bei der Feuerwehr gibt es Kameradschaft bis zum Tod“.

Für David hat die Tätigkeit bei der Feuerwehr noch einen ganz greifbaren Nutzen: Er kennt durch die Übungen das Wegenetz seiner Heimatstadt perfekt. Er nutzt dieses Wissen auch heute noch, wenn er die für ihn gefährlichen Ecken der Stadt umgeht oder in Gedanken eine mögliche Flucht durchspielt. Was inzwischen Routine ist, war früher Angst. Die soll jenen, die wie David aus der Szene raus wollen, in der Aussteigerwohnung genommen werden. „Das ist sicher eine gute Idee vom Herrn Ankele“, sagt David.